Pädiatrie up2date 2012; 07(03): 247-262
DOI: 10.1055/s-0032-1310077
Endokrinologie/Stoffwechsel
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Jugendliche Esskultur

Alterstypische Einflussfaktoren auf jugendliches Essverhalten
Silke Bartsch
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Publication Date:
28 August 2012 (online)

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Einleitung

Jugendliches Essverhalten in Fast-Food-Lokalen und Snacken auf der Straße wird in der Öffentlichkeit als „die Jugendesskultur“ wahrgenommen. Dies greift jedoch zu kurz: Erstens wird nicht offenbar, wie und was Jugendliche im häuslichen Umfeld essen. Zweitens ist der Zusammenhang zwischen Essverhalten und Lebensstil wesentlich. Die Häufigkeit des sichtbaren Essens „auf der Straße“ ist daher von den präferierten Freizeitaktivitäten der Jugendlichen als Teil des Lebensstils abhängig und variiert stark [1] [2].

Unabhängig vom Lebensstil ist die Jugendzeit als Übergangsphase in die Erwachsenenwelt immer durch die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben (Ablösung und Unabhängigkeit, Identitätsbildung, Distinktion und Integration) geprägt. Jugendspezifisches Essverhalten ist daher immer auch unter dem Aspekt der Loslösung vom Elternhaus und der Entwicklung der eigenen Identität mit den entsprechenden Werthaltungen und Präferenzen zu sehen. Jugendliches „Außer-Haus-Essverhalten“ erfolgt in einer anderen (unabhängigeren) Rolle als zu Hause. Es hat andere Bedeutungen (Hunger schnell und kostengünstig stillen, Peergroup-Kulturen entwickeln) und unterliegt anderen Regeln („In-out-Regeln“ in der Peergroup). Die Entwicklungsaufgaben beeinflussen das Essverhalten aller Jugendlichen im Rahmen des jeweiligen gesellschaftlichen Kontexts, differenziert durch sozioökonomische und kulturelle Zugehörigkeit.

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Abb. 1 Symbol der „Jugendesskultur“. Quelle: Thieme Verlagsgruppe, Jutta Weser.

Unter Jugendesskultur wird hier das von den Entwicklungsaufgaben beeinflusste alterstypische Essverhalten verstanden, das durch die verschiedenen Lebensstile beeinflusst wird und individuell unterschiedlich sein kann. Jugendesskultur ist historisch ein Novum und wurde durch das liberale Erziehungsumfeld in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst ermöglicht. Jugendliche sind in unserer Gesellschaft sowohl Träger als auch Gestalter der allgemeinen Esskultur [1]. Sie sind Trendsetter und initiieren Veränderungen der allgemeinen Esskultur, wie zum Beispiel beim außerhäuslichen Essen beobachtbar ist.

Komplexität des Essverhaltens

Essverhalten ist komplex und wird durch zahlreiche Einflussfaktoren bestimmt, deren Beschreibung stets facettenhaft und fragmentarisch bleiben muss. Marcel Mauss spricht daher vom „Essen als Totalphänomen“ [3]. Individuelle Essentscheidungen werden unter personenbezogenen und vielfältigen situativen Rahmenbedingungen getroffen (Abb. [2]). Unabhängig von diesen Variationen lassen sich jedoch typische Essmuster in Abhängigkeit von Strukturkategorien wie Alter, Geschlecht, sozialem Milieu oder Lebensstil erkennen. Darüber hinaus entwickelt sich Essverhalten unter dem Einfluss von Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule, Peergroup und Medien, die wichtige Ansatzpunkte für Prävention und Therapie von Essstörungen und Übergewicht liefern.

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Abb. 2 Einflussfaktoren auf Essentscheidungen.

Ziel des vorliegenden Beitrags ist, den Einfluss der alterstypischen Entwicklungsaufgaben auf das heutige Essverhalten von Jugendlichen im Zusammenspiel mit weiteren Einflussfaktoren darzustellen, um Hilfestellungen für Prävention und die Beratung von Jugendlichen in der pädiatrischen Praxis zu geben.